Sogyal Rinpoche: Das tibetanische Buch vom Leben und vom Sterben
Ein Schlüssel zum tieferen Verständnis von Leben und Tod
Ich habe hier ein Kapitel aus diesem Buch eingefügt, das ich ganz hilfreich für unsere Arbeit finde. Natürlich ist das ganze Buch sehr hilfreich!
Der Tod in der modernen Welt (S. 26 fff)
Als ich dann in den Westen kam, war ich schockiert, wie grundlegend sich die hier vorherrschende Einstellung zum Tod von der Sicht, mit der ich aufgewachsen war, unterschied. Trotz aller technologischen Errungenschaften besitzt die moderne westlich Zivilisation kein wirkliches Verständnis vom Tod, von den Vorgängen beim Sterben oder von dem, was nach dem Tod geschieht.
Ich begriff, dass die Menschen heutzutage lernen, den Tod zu verdrängen, und daher im Sterben nichts als Vernichtung und Verlust sehen. Daraus folgt, dass die meisten Menschen den Tod entweder vollständig leugnen oder in Angst vor ihm leben. Bloß über den Tod zu sprechen, wird schon als morbid angesehen, und viele Menschen glauben, dass sie allein durch Erwähnung des Todes das Risiko eingehen, ihn auf sich zu ziehen.
Andere sehen dem Tod mit einer naiven, gedankenlosen Zuversicht entgegen. Sie denken, aus irgendwelchen unbekannten Gründen werde schon alles gut gehen, und man müsse sich keinerlei Sorgen machen. Wenn ich an diese Menschen denke, werde ich immer an den Ausspruch eines tibetischen Meisters erinnert: „Die Menschen nehmen den Tod oft zu leicht und denken: „Was soll´s, der Tod ereilt schließlich jeden. Was ist schon dabei, er ist etwas ganz Natürliches, es wird schon werden.“ Das ist eine nette Theorie – bis man dann stirbt.“
Von diesen beiden Einstellungen sieht die eine den Tod als etwas, vor dem man sich hastig in Sicherheit bringen muss, die andere meint, es komme schon alles von selbst in Ordnung. Wie weit entfernt sind doch beide von einem Verständnis der wahren Bedeutung des Todes!
Alle großen spirituellen Traditionen der Welt, das Christentum selbstverständlich eingeschlossen, haben uns erklärt, dass der Tod nicht das Ende ist. Alle haben die Vision eines wie auch immer gearteten Lebens danach, das unserem jetzigen Leben erst seine wahre Bedeutung verleiht. Aber trotz dieser Lehren ist die moderne Zivilisation in weiten Teilen eine spirituelle Wüste . die Mehrheit glaubt, dieses Leben sei alles. Ohne einen wirklichen, authentischen Glauben an ein Leben danach führen die meisten Menschen ein Leben ohne jeden letztendlichen Sinn.
Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass die katastrophalen Folgen einer Verdrängung des Todes weit über das Individuum hinausreichen: Sie betreffen den ganzen Planeten. In seinem eigensinnigen Glauben, die Leben sei da einzige, hat der moderne Mensch keine Langzeitvisionen entwickelt. Nichts hält ihn mehr davon ab, den Planeten aus kurzfristigem Eigeninteresse auszuplündern und auf eine Weise selbstsüchtig zu leben, die sich für die Zukunft als fatal erweisen könnte. Wie viele Warnungen, wie die folgende des früheren brasilianischen Umweltministers, in dessen Verantwortungsbereich auch der Regenwald im Amazonas-Gebiet lag, brauchen wir eigentlich noch?
„Die moderne Industriegesellschaft ist eine fanatische Religion. Wir demolieren, vergiften und zerstören alle Lebenssysteme auf diesem Planeten. Wir zeichnen Schuldscheine, die unsere Kinder nicht werden einlösen können ... Wir handeln, als seien wir die letzte Generation auf diesem Planeten. Ohne einen radikalen Wandel in unseren Herzen, in unserem Geist und in unserer Vision wird die Erde enden wie die Venus: tot und verkohlt.“
Angst vor dem Tod und Ignoranz gegenüber einem Leben danach sind der Treibstoff für die Umweltzerstörung, die unser aller Leben bedroht. Muss es daher nicht zutiefst beunruhigen, dass die Menschen nicht lernen, was der Tod wirklich ist und wie man friedlich stirbt, dass niemand ihnen Hoffnung gibt auf das, was hinter dem Tod steht und daher letztlich auch hinter dem Leben? Was könnte paradoxer sein als die Tatsache, dass junge Menschen in jedem nur erdenklichen Fach hoch gebildet sind , außer in diesem einen, das den Schlüssel für den Sinn des Lebens enthält und möglicherweise sogar für unser aller Überleben?
Es hat mich schon immer fasziniert, dass manche buddhistische Meister den Menschen, die sie um Belehrungen bitten, eine einfache Frage stellen: Glaubst Du an ein Leben nach dem Tod? Philosophische Lehrmeinungen interessieren sie dabei nicht, sie wollen ausschließlich wissen, was man tief im Herzen spürt. Die Meister wissen, dass Menschen, die an ein Weiterleben glauben, eine ganz andere Lebenseinstellung haben. Sie besitzen einen entschiedenen Sinn für persönliche Verantwortung und Ethik. Menschen, die nicht an ein Leben danach glauben, machen sich kaum Gedanken über die Konsequenzen ihres Tuns und schaffen eine Gesellschaft, die fast ausschließlich auf Kurzzeitergebnisse fixiert ist – und das ist es, was die für die Brutalität und Oberflächlichkeit der liegen, die wir uns geschaffen haben und in der wir jetzt leben – eine Welt, in der aufrichtiges Mitgefühl selten geworden ist?
Manchmal denke ich, dass die blühendsten und mächtigsten Länder der entwickelten Welt dem Wohnort der Götter gleichen, wie er in den buddhistischen Lehren beschrieben wird. Wie es heißt, leben die Götter in sagenhaftem Luxus, schwelgen in allen nur denkbaren Sinnesfreuden, ohne jemals auch nur einen einzigen Gedanken an die spirituelle Dimension des Lebens zu verschwenden. Alles scheint nur wunderbar, bis ihr Tod naht und unerwartete Zeichen von Verfall sichtbar werden. Dann wagen sich die Gefährtinnen und Liebhaber nicht mehr in ihre Nähe, sondern werfen aus der Entfernung Blumen auf sie , mit beiläufigen Gebeten, dass sie doch wieder als Götter geboren werden mögen. Keine Erinnerung an Glück oder Bequemlichkeit kann ihnen dann noch Schutz vor den Leiden bieten, das ihnen bevorsteht – im Gegenteil, es macht alles nur noch grausamer. Die Götter sterben, von allen verlassen, einen einsamen, elenden Tod.
Das Schicksal der Götter erinnert an die Art, wie die Alten, Kranken und Sterbenden heutzutage behandelt werden. Unsere Gesellschaft ist jugend-, sex- und machtbesessen; Alter und Verfall werden einfach verdrängt. Ist es nicht erschreckend, dass wir alte Menschen fallen lassen, sobald sie „nutzlos“ geworden sind, weil ihr Arbeitsleben beendet ist? Ist es nicht beunruhigend, dass wir sie in Altersheime verbannen, wo sie dann einsam und verlassen sterben?
Ist es nicht auch langsam an der Zeit, dass wir die Art und Weise überdenken, mit der wir Menschen mit tödlichen Krankheiten sie AIDS und Krebs nicht selten behandeln? Ich habe einige Menschen kennen gelernt, die an AIDS starben, und ich habe gesehen, wie sie selbst von ihren Freunden als Ausgestoßene behandelt wurden. Ich habe miterlebt, wie der Makel, der diesen Krankheiten anhaftet, sie hat verzweifeln lassen, weil die Welt ihnen das Gefühl gab, sie seien ekelhaft und ihr Leben eigentlich schon zu Ende.
Selbst wenn ein Mensch stirbt, den wir lieben, können wir häufig nicht helfen, weil wir einfach nicht wissen wie; und später, nach seinem Tod bestärkt und gewöhnlich kaum jemand darin, uns noch weiter gehende Gedanken um die Zukunft und ein eventuelles Fortdauern dieses Menschen zu machen oder gar Mittel und Wege zu suchen, wie wir ihm auch dann noch helfen können. Tatsächlich gibt man sich mit jedem Gedanken in diese Richtung dem Vorwurf der Unvernunft oder der Lächerlichkeit preis.
Dies alles führt uns mit schmerzlicher Klarheit vor Augen, dass wir dringend einen fundamentalen Wandel in unserer Einstellung zu Tod und Sterben herbei führen müssen – heute mehr denn jemals zuvor. Glücklicherweise beginnen sich die Haltungen bereits zu verändern. Die Hospizbewegung zum Beispiel leistet hervorragende Arbeit in Bezug auf praktische und emotionale Unterstützung für Sterbende. Das allein ist allerdings noch nicht genug; sterbende Menschen brauchen zwar dringend Liebe und Fürsorge, aber das ist noch nicht alles. Sie müssen außerdem einen wirklichen Sinn im Tod und im Leben entdecken. Was sonst könnte ihnen wirkliche Trost geben? Wahre Hilfe für Sterbende muss daher immer auch das Angebot spiritueller Betreuung beinhalten, denn nur mit spirituellem Wissen können wir uns dem Tod wirklich stellen und ihn tatsächlich verstehen.
Die Art und Weise, wie das Thema Tod in den letzten Jahren von Pionieren wie Elisabeth Kübler-Ross und Raymond Moody in Westen offen angegangen wurde, hat mir Mut gemacht. Im Hinblick auf die Sterbebegleitung hat Elisabeth Kübler-Ross gezeigt, dass mit bedingungsloser Liebe und einer aufgeklärten Vision Sterben eine friedvolle, ja verwandelnde Erfahrung sein kann. Die wissenschaftlichen Untersuchungen der verschiedenen Aspekte der Nahtod-Erfahrung, angeregt durch die mutige Arbeit von Raymond Moody, haben die Menschheit um die lebendige und starke Hoffnung bereichert, dass das Leben mit dem Tod nicht zu Ende ist, sondern dass es in der Tat ein „Leben nach dem Leben „ gibt.
Einige Menschen haben allerdings die volle Bedeutung dieser Entdeckungen in Bezug auf Tod und Sterben nicht richtig verstanden. Dadurch kann es zu Extremen bis hin zu einer Verherrlichung des Todes kommen, und ich habe von tragischen Fällen gehört, in denen junge Menschen Selbstmord begingen, weil sie glaubten, der Tod sei etwas Wunderbares und ein Ausweg aus der bedrängenden Enge ihres Lebens. Ob wir den Tod nun fürchten und verdrängen oder ob wir ihn verklären – in beiden Fällen trivialisieren wir ihn. Sowohl Verzweiflung als auch Euphorie sind Ausflüchte. Der Tod ist weder deprimierend noch spannend, er ist einfach eine Tatsache des Lebens.
Es ist eine traurige Tatsache, dass die meisten von uns ihr Leben erst dann zu würdigen beginnen, wenn es ans Sterben geht. Ich muss häufig an die Worte des großen buddhistischen Meisters Padmasambhava denken: „Die, die glauben, sie hätten noch eine Menge Zeit, bereiten sich erst vor, wenn der Tod naht. Dann werden sie plötzlich von Reue überwältigt. Aber ist es dann nicht zu spät?“ Ist es nicht ein äußerst beunruhigendes Zeichen, dass die meisten Menschen der modernen Welt dem Tod genauso unvorbereitet begegnen wie zuvor dem Leben?